Concerto Nr. 4

Markus Geiselhart & Big Band Pfaffstätten: Eine spektakuläre Jazz-Suite über den Wiener Neustädter Kanal

Das hätte sich der Wiener Neustädter Kanal nicht träumen lassen, dass 218 Jahre nach seiner Eröffnung eine Jazz-Suite für ihn geschrieben werden würde. Dabei wusste man 1797, als der Bau begann, nicht einmal, was Jazz überhaupt ist. Auch nach 6 Jahren Arbeit und einer feierlichen Eröffnung 1803 existierte Jazz noch lange nicht. Jazz, was ist das für ein neuzeitlicher Unsinn!

Dass die doch etwas skurrile Idee entstand, Jazz im Big Band Sound für einen Kanal zu schreiben, der ein Transportweg auf dem Wasser war, hat mehrere Gründe. Es hat sich einiges an Gegebenheiten geradezu en passant zusammengefügt. Leopold Fuhrmann, ein Tenorsaxofonist und mit Bernhard Österreicher Gründungsmitglied der Big Band Pfaffstätten, fragte den renommierten Komponisten, Arrangeur und Dirigenten Markus Geiselhart, ob er sich nicht erwärmen könne, über den Wiener Neustädter Kanal Jazz-Musik zu vertonen. Der Stuttgarter lebt seit 15 Jahren in Österreich – genauer in Pfaffstätten – und ist mittlerweile 8 Jahre Lehrbeauftragter an der Universität Wien für Musik und Darstellende Kunst. Markus, der letztens mit absoluten Top-Jazzern wie z.B. dem Trompeter Thomas Gansch zusammenarbeitete oder das Werk eines Don Ellis neu interpretierte, machte sich an die Arbeit.

Ausnahmetrompeter Andy Haderer: Als Solisten lud Geiselhart den Trompeter und Flügelhornisten Andy Haderer ein, der als waschechter Tribuswinkler am Kanal aufgewachsen ist. Der international geschätzte Musiker lebt seit mehr als 20 Jahren in Köln, ist Solist und Leadtrompeter bei der WDR Big Band und Professor für Jazztrompete an der Hochschule für Musik in Köln. Und zu guter Letzt veröffentlichte man die wunderbare CD bei den Wiener cracked anegg records, deren Chefin, Sharon Anegg, auch eine originale Pfaffstättnerin ist. Um über den Kanal, der eigentlich bis Triest reichen sollte, nicht nur musikalisch eingeweiht zu werden, spricht der Pfaffstättner Peter Meissner, bekannt als moderierendes Urgestein von Radio NÖ (im Ruhestand), Liedermacher und Buchautor, 10 Zwischentexte (Interludes), die von der Historie des Kanals, außergewöhnlichen Geschehnissen und den Menschen, die an der Wasserstraße lebten, auch mit ihren Berufen erzählen. Meissner trägt diese kleinen Geschichten, die meist unter 2 Minuten dauern, unaufgeregt, bedächtig und einfühlsam vor. Man freut sich gleichsam immer schon, wie ein geschildertes Szenario jazzig klingen wird. Dass die Suite tatsächlich meisterhaft gelungen ist, rührt auch daher, dass einige prominente, professionelle Jazzmusiker im Ensemble integriert sind: Neben Andy Haderer wären dies Erwin Schmidt, der auf seiner Hammond B3 Orgel groovig beweist, dass er einer der Besten unseres Landes ist; der österreichische Slowake Karol Hodas (kb, e­h), Thomas Froschauer ( dr) und Robert Bachner (pos ). Nebenbei spielt eine Dame, Nina Dvorak, in der Band das Baritonsaxophon.

700 Kilometer bis Triest: Als man 1797 mit dem Bau des Kanals begann, war geplant, den schiffbaren Transportweg 700 Kilometer lang bis Triest zu errichten, um verschiedenstes Material (Holz, Ziegel, Kohle, Schotter u.a.m.) bequem nach Wien (und umgekehrt) zu verfrachten. Spektakuläre Konstruktionen wie 14 Aquädukte, 50 Schleusenkammem und 54 Brücken zwischen dem Wiener Hafen (heute finden wir dort den Bahnhof Wien-Mitte) und Wiener Neustadt oder dem Grenzort zu Ungarn, Pöttsching, waren notwendig, um Höhenunterschiede zu überwinden und die Schiffsladungen sicher passieren zu lassen. Bald wurden etliche Mühlen am Kanal errichtet, um die Wasserkraft zu nützen, ab 1935 wurden mehr als ein Dutzend Kleinkraftwerke gebaut, um die Haushalte ringsum zu versorgen. Jetzt noch sind einige Kleinkraftwerke, natürlich modernisiert, in Betrieb.

In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts verlor der Wiener Neustädter Kanal seinen Sinn als Wasserstraße, da die Eisenbahn die Welt veränderte und Transportaufgaben schneller und bequemer übernahm. Heute ist der Wiener Neustädter Kanal ein einmaliges Industriedenkmal, Naherholungsgebiet und durch seine Kraftwerke Energiespender. Kein Problem, dass man Triest nie erreichte.

Ernst Weiss – August 2021

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