Falter
„Was willst Du eigentlich mit dem Swingzeug“ wurde Herwig Gradischnig sogar schon von jazzaffinen Veranstaltern gefragt, wie er sich mit gutmütiger Empörung erinnert: „Dabei haben die Leute keine Ahnung von Swing. Dieses Körpergefühl existiert doch gar nicht mehr.“
Mit der historischen Stilrichtung Swing hat die Musik Gradischnigs nichts zu tun, mit Tradition sehr wohl. Man würde wohl auch echte Spezialisten in Verlegenheit bringen, bäte man sie im Rahmen eines Blindfold-Tests darum, das soeben erschienene Album des Ghost Trio einzuordnen. Ist das eben erst oder doch schon Anfang der Sechzigerjahre eingespielt worden? „Wurscht“, lautet die adäquate Antwort, denn das Adjektiv „zeitlos“ ist hier ausnahmsweise nicht nur eine defensive Behauptung – was etwa der Umstand belegt, dass sich Standards, wie die zunächst traumverlorene, dann aber zunehmend eloquenter werdende Interpretation von „I Should Care“ mit ihren exquisiten Glissandi oder das luftig-lässige „Nature Boy“, ganz ausgezeichnet mit Gradischnigs Eigenkompositionen vertragen. Und könnte „From Fair to Middling Women“ etwa nicht von Sonny Rollings stammen (auf den Gradischnig wiederum auf „Nature Boy“ anspielt, wenn er das Thema des 1966er-Michael-Cain-Films „Alfie“ zitiert, auf dessen Original Score Rollins zu hören ist)? Schon vor 10 Jahren hatte Gradischnig das großartige Trio We Three ins Leben gerufen und mit diesem zwei Alben eingespielt. Ist die Sax-Bass-Schlagzeug-Besetzung, die Rollins in den späten Fünfzigerjahren zu historischen Höhen geführt hat, Gradischnigs Lieblingsformat? „Derzeit schon – weil man so viele Wege gehen kann. Mit einem Harmonieinstrument ist man stärker eingeschränkt. Im Trio klingt es abstrakter.“
1998 wurde Gradischnig der Hans-Koller-Preis in der Kategorie „Newcomer des Jahres“ verliehen, 2004 seine Duoplatte „Daydream“ (gemeinsam mit Pianist Oliver Kent) zum „Album des Jahres“ gewählt. Dass der Sohn eines Kapfenberger Gymnasialdirektors, dessen Jazzplattensammlung wesentlich für die musikalische Bildung des Sohns verantwortlich war, noch nicht einmal in Österreich selbst den Status genießt, den er verdient, hat mit seiner Karriere- und Familienplanung zu tun. Seit 1993 spielt der Schüler des Saxofonisten Harry Sokol auf dessen Vermittlung im Vienna Art Orchestra (VAO) und ist dort – ursprünglich „mit Abstand der Jüngste“ – mittlerweile das drittälteste Mitglied. Weil das Tenor aber schon besetzt war, versieht Gradischnig dort seit Anfang an den Dienst am Bariton. Nicht dass er sich beklagen möchte, aber der Entfaltung der eigenen musikalischen Potenz ist es nur bedingt zuträglich: „Beim Bigbandspielen roste ich ein, weil ich bis zu einem gewissen Grad immer dasselbe spiele.“ Dennoch möchte er das derzeit aufgrund des Ausfalls des Generalsponsors Bank Austria in finanzielle Turbulenzen geratene VAO nicht missen: „Das ist auch meine Familie, und ich fände es tragische, wenn es vorbei sein sollte, weil es niemand für notwendig erachtet, das aufrechtzuerhalten. “ 2002 wollte Gradischnig dann eigentlich nach New York, blieb dann aber noch vor der Atlantikküste mit Frau und Tocher im französischen Agoulème hängen. Paris war 550 Kilometer entfernt – „und wenn du nicht in Paris bist, spielst du dort auch nicht“. Die Szene in und um die knapp 50.000 Einwohner zählende Stadt bot zwar interessante, aber auch nur eingeschränkte Möglichkeiten für den Saxofonisten: „Das war die totale Avantgardeabteilung und ging eher in Richtung Neue Musik.“ Gradischnig musste sich also außerhalb Frankreichs um Auftrittsmöglichkeiten umschauen und betrieb zuletzt einen „unglaublichen Reiseaufwand“. Vor ziemlich genau einem Jahr kehrte er nach Wien zurück, in eine Wohnung, die er zuvor noch nie gesehen hatte, und mit der ernüchternden Einsicht: „Niemand auf der Welt wartet darauf, dass man zurückkommt.“
Die Melancholie ist mittlerweile wieder verflogen, Gradischnig gerade auf Trio-Tour. Mit dem jungen, auch im Wolfgang Muthspiel Trio beschäftigten und generell stark nachgefragten Bassisten Matthias Pichler und dem feinmotorischen Schlagzeugsutilisten Klemens Marktl stehen ihm denn auch zwei äußerst versierte Musiker zur Verfügung, die nicht bloß als sidemen fungieren, sondern das geisterhaft gut eingespielte Ghost Trio – übrigens auf Beethoven („Geistertrio“) und Beckett („Ghost Trio“) zurückgehend – erst zu dem machen, was es ist: eine der besten Jazzcombos, die man zurzeit in Österreich hören kann. Und Gradischnig, der erst vor kurzem vierzig geworden ist, hat kein Problem damit, hinter seine Kollegen zurückzutreten. Immerhin basiert die ganze Idee des Ghost Trio auf dem Konzept der Reduktion: „Ich habe mir gedacht: Shit, Alter – spiel weniger! Es geht darum, dass weniger mehr ist.“ Und auch das ist hier nicht bloß eine Behauptung: man kann es nachprüfen – live und auf Konserve.
Klaus Nüchtern – 14. – 20.03.08