Frankfurter Rundschau | 6
Das Besondere der B-Seite Klaus Nüchtern spielt mit seinen Handsemmel Records ein Spiel der Gegensätze.
Handsemmeln, der Name deutet es an, sind von Bäckerhand gefertigt und nicht von Backmaschinen im Gleichmaß geformt. Jede Handsemmel ein Unikat. Schon Kaiser Franz Joseph soll sich an dem krossen Gebäck delektiert haben. Die lange Teigführung, erklärt ein österreichischer Bäckermeister, macht den Unterschied. Während des Gärprozesses bilden sich viele Aromastoffe, und beim Handwirken wird Mehl zugefügt, das beim Backen karamelisiert und zum wichtigen Geschmacksträger wird. Wenn sich ein kleines Wiener Label für avancierte Jazz-Musik Handsemmel Records nennt, dann muss das also mit langen Gärprozessen zu tun haben, mit Karamelisierung und mit vielen Aromastoffen, die geschmacksprägend sind. Und mit einer Form der Produktion, die selbst fast schon historisch ist.
Klaus Nüchtern, im täglichen Leben Kulturchef der Wiener Stadtzeitung Falter und von 2004 bis 2008 der schlagfertigste Juror des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt, hat als Jazzfan das Label vor gut drei Jahren aus der Taufe gehoben, und das mehr oder minder vorm Traualtar. Am Anfang stand nämlich das Album „Bridal Suite“, das er mit Franz Koglmann (Flügelhorn) und Oskar Aichinger (Klavier) als Hochzeitsgeschenk für einen Freund produzierte. Die schwelgerischen, auch ins Melancholische spielenden Interpretationen von Burt-Bacharach-Songs stießen bei der Hochzeitsgesellschaft auf so große Begeisterung, dass Nüchtern sich genötigt sah, sie der restlichen Welt zugänglich zu machen. Handsemmel Records war erdacht und gegründet; der Name, sagt Nüchtern, steht dabei für etwas Obsoletes und zugleich Besonderes. „Das Format der CD ist ja mittlerweile schon fast sowas wie eine Handsemmel.“ Also auch vom Aussterben bedroht.
In Zeiten von MP3-Playern und Downloads ist das Konzept Album überhaupt dabei, ins Hintertreffen zu geraten. Umso bezeichnender, dass die Handsemmel-CDs mediengeschichtlich noch einen Schritt zurückgehen und auf dem Cover zwischen A- und B-Seite unterschieden wird, obwohl die Aufnahmen ausschließlich auf Compact Discserscheinen. Ein Scherz? Eine historische Referenz? „Ich finde“, sagt Klaus Nüchtern, „dass die meisten CDs um einiges zu lang und dramaturgisch auch unterdeterminiert sind. Die A- und B-Seiten sind wirklich als solche konzipiert: Der Opener der B-Seite ist noch mal ein neuer Einstieg, und die innere Dramaturgie der beiden Seiten ist überlegt.“ Programmatisch lässt sich beim noch überschaubaren HandsemmeI-Backkatalog eine Tendenz zum Tribute-Album feststellen. Burt Bacharach, Robert Wyatt, Eric Dolphy und Ornette Coleman, allesamt musikalische Helden des Label-Betreibers, werden von Formationen interpretiert, die eigens für die Session zusammengestellt sind. Nüchtern spricht befreundete Musiker an, schlägt ihnen ein Projekt vor, erfindet einen schönen Namen dafür, fotografiert Instrumentalisten und städtische Motive fürs Albumcover und wacht als Fan über das Geschehen. Manchmal kocht er für seine Musiker Hirsch-Gulasch, und beim Bier entstehen Ideen für neue Aufnahmen. So kam es zu „Market Rasen“. Das ist einerseits der Name eines Trios um den österreichischen Saxofonisten Max Nagl- Market Rasen heißt ein Ort und Provinzbahnhof, an dem man aussteigen muss, wenn man den legendären Gründer und Schlagzeuger der britischen Band „Soft Machine“ Robert Wyatt, in Louth, gelegen in der englischen Grafschaft Lincolnshire, besuchen möchte. Was Klaus Nüchtern offensichtlich vor einigen Jahren in seiner Funktion als Journalist getan hat. Das Material muss immer einen harten Belastungstest ertragen Wyan, der einst mit Soft Machine die besseren Seiten des Progressive Rock verkörperte, dann im Vollrausch partout ein Haus übers Fenster verlassen wollte, dabei ein paar Stockwerke in die Tiefe stürzte, seit nunmehr über 30 Jahren im Rollstuhl sitzt und phänomenale Solo-Alben veröffentlicht hat, ist ein Popmusiker, der mit dem Jazz liebäugelt – und von Jazzern deshalb auch gemocht wird. „Market Rasen“ betont diese Seite mit einem feinen Gespür für die der Sehnsucht nach Schönheit geschuldete Klarheit in Wyatts Kompositionen. Was nicht bedeutet, dass hier nicht auch frei mit dem Material umgegangen, das harmonische Gerüst nicht wüst auf seine Tragfähigkeit für alle möglichen Sounds getestet würde. Als Kurator eines Konzertabends beim Deutschen Jazzfestival Frankfurt hat Robert Wyatt das Trio „Market Rasen“ eingeladen und der Band die Gelegenheit gegeben, einen der größten Publikumserfolge des Festivals einzuheimsen.
Das jüngste Projekt von Handsemmel Records trägt den akronymischen Titel „c.o.d.e.“. Die Initialen stehen für Coleman (Ornette) und Dolphy (Eric) , an deren Kompositionen sich ein Quartett mit Max Nagl am Altsaxofon, Clayton Thomas am Bass, Wolfgang Reisinger am Schlagzeug und Ken Vandermark anTenorsaxofon und Klarinette austobt. Miteinern atemberaubenden kontrapunktischen Bläserdialog aus dem Geist des Cool weist der Weg auf dieser intelligent arrangierten Hommage immer wieder in Richtung frei flottierender lmprovisations-Geniesstreiche. Dem Produzenten Klaus Nüchtern geht es um das Spiel der Gegensätze: The Polyphonie Spree auf Free Jazz oder The Flarning ups meet Albert Ayler, dafür wäre er zu haben_ Zunächst soll allerdings das Repertoire des Evangelischen Kirchengesangsbuchs auf seine Jazztauglichkeit hin überprüft werden. Um dieses „Rumspinnen“ zumindest in Ansätzen zu finanzieren, hat sich ein Freundeskreis gegründet. Es wäre allerdings noch ein anderer Weg des Privatsponsoring denkbar, wenn es nach Nüchtern ginge: „Sollte es einen etwas freakigeren Frankfurter Finanzier geben, der ein bisschen Geld abfackeln möchte: Ich bin per Telefon und E-Mail ganz leicht erreichbar.“
Ulrich Rüdenauer – 08.01.2009