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Zehn Jahre existiert das „kleine Label für mundgeblasenen Jazz“ – so die Eigendarstellung – namens Handsemmel Records, ein Label, das mit cracked anegg records für die vorliegende Einspielung zusammengearbeitet hat. Das Besondere an Handsemmel Records ist die Tatsache, dass es sich bei Handsemmel quasi um Slow Food handelt. Nur alle 20 Monate wird eine neue CD gebacken und frisch aus dem Ofen geholt. Massenwaren ist also nicht das Ding der Macher von Handsemmel Records.
Ein Star im Frühlingsfederkleid ziert das Cover der CD, die im Titelauflisten so tut, als wäre es eine Vinyl-Scheibe mit A- und B-Seite. Irgendwie ein wenig nach Anarchismus mutet das an, so als habe die Welt der Silberscheibe nicht die des schwarzen Vinyls beinahe gänzlich verdrängt. Rund um den Altsaxofonisten Max Nagl scharen sich der Bassist Peter Herbert, der Tenorsaxofonist Herwig Gradischnig und der in Amsterdam lebende, aus den USA gebürtige Schlagzeuger Michael Vatcher. So treffen drei Österreicher auf einen niederländischen Amerikaner, um nicht nur eine Lennon/McCartney-Komposition – ‚A Day In The Life ‚ –, sondern auch eigene Kompositionen zu präsentieren.

Schräg klingen vom Wort her einige Titel wie ‚Klubkonzert (Blaue Tomate)‘ oder ‚Bipolare Nachtruhe‘, ein Werk des Tenorsaxofonisten des 4tets, der auch ‚A Second Cup Of Ihlamur-Tea‘ zur CD-Veröffentlichung beisteuerte. Es scheint, betrachtet man die diversen Titel der Kompositionen, irgendwie darum zu gehen, die unterschiedlichen Stimmungen, Zumutungen und Anforderung des Tagesablaufs einer Person zu Tonstücken zu verarbeiten. Dabei sind diese musikalisch durchaus vom freien Geist der Improvisationen und bisweilen auch des Free Jazz bestimmt.

Aus dem Off beginnt die aktuelle Einspielung. Der Klang des gestrichenen Basses schwillt nach und nach an. Brummend setzt sich die Basssequenz fort, die von Saxofonklang überlagert wird. ‚Traumschlaf‘ ist zu hören und zugleich drängen sich Bilder von einem Küstenstreifen im Nebel auf, wenn die Saxofonpassagen ihre melancholische Stimmung über uns ausbreiten. Hört man da nicht Schiffssirenen und Getöse in der gerade erwachenden Hafenstadt? Ach, ist ja alles nur ein Traum, oder? Dem Schlaf entrissen, geht es an die Morgentoilette: ‚Dragged A Comb Across My Head‘ – so die zweite Einspielung auf dem Album. Ein flotter Basslauf und darüber die sich im Duett umgarnenden Saxofone sind zu vernehmen. Der Tag beginnt nicht mit einem Knall, nein, mit einem morgendlichen Dreiergespräch, ehe dann die Routine das Alltags dominiert. Gibt es da nicht bereits den ersten morgendlichen Disput mit Rede und Widerrede? Zumindest könnte man das Spiel der Saxofone so deuten, während der Bass seiner Linie treu bleibt. Zwischenzeitlich glaubt man gar Eisler und Weill hätten Peter Herbert beim Komponieren ein wenig über die Schulter geschaut, wenn die Saxofonsequenzen erregter werden und sich gar überschlagen.

Ja, die Beatles mit ihren ausgefeilten Kompositionen sind immer gut für Jazzarrangements und freies Spiel. Kein Wunder, dass auch ein Titel des Duos John Lennon und Paul McCartney auf der Scheibe zu finden ist. Eigenwillig ist die erkennbare Melodielinie, schon allein deshalb, weil nicht Gitarren, sondern Saxofone das Melodiethema übernehmen. Doch allzu viel Zeit hat der Hörer nicht, sich auf die Melodie einzulassen, denn dann beginnt das heftige Improvisieren. Crescendo steht auf dem Tagesablauf, so als wäre man zur Rush Hour am Trafalgar Square in London. Doch nach diesem kurzen Intermezzo taucht wieder die Melodielinie auf und das Stück wird geradezu zu einem Popsong – was ‚A Day In My Life‘ ja auch ursprünglich war. So fragt sich der geneigte Hörer denn auch, ob das Jazz ist oder nicht.

Im „zweiten Teil“ der Einspielung lädt uns das 4tet zu einem 5-Uhr-Tee ein, oder? Jedenfalls wird uns ‚A Second Cup Of Ilhamur-Tea‘ serviert. Ilhamur-Tea – was ist das denn? Rasch die Aufklärung: Lindenblütentee vom Balkan. So ist denn unsere Annahme der englischen Teestunde falsch. Wer dann aber glaubt Balkan Jazz und Balkan Pop hätte die Komposition von Herwig Gradischnig nachhaltig beeinflusst, der irrt sich gewaltig. Eher denkt man bei den ersten Takten an Kompositionen und Spielweisen von Nat und Cannonball Adderley. Doch dies ist nur ein kurzer Moment, denn im Verlauf des Stücks wird dieser Klangeindruck nachhaltig zerstört. Nervös und getrieben charakterisiert den Duktus des Spiels bei diesem Arrangement wohl am besten.

Nach dem Besuch des ‚Klubkonzerts‘ ist dann die ‚Nachtruhe‘ angesagt. Doch Nagl & Co. belassen es nicht bei einem gesunden Nachtschlaf, nein, bipolar muss die Nachtruhe sein. Was soll aber ‚Bipolare Nachtruhe‘ eigentlich bedeuten? Bipolare Persönlichkeiten, die sind aus der Psychologie und Psychiatrie bekannt, aber dass nun auch die Nachtruhe gespalten ist, das ist doch eher absurd. Oder soll damit nur ausgedrückt werden, wie das Spiel des 4tets strukturiert ist: Spiel-Gegenspiel-Spiel begleitet von abrupten Rhythmuswechseln? In diesem Sinne macht der Titel dann auch wieder Sinn, auch wenn das sehr freie Spiel an eine verdiente Nachtruhe nun so gar nicht erinnert. Aber es handelt sich ja auch um ‚gespaltene Nachtruhe‘!

Ferdinand Dupuis-Panther – Sept 2014

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