Jazzzeit | 69

Ulrich Drechsler braucht heute öfter mal eine Pause. Nicht, dass der in Wien ansässig gewordene Deutsche Ermüdungserscheinungen zeigen würde: Ein Konzert hier, ein „Club Drechsler“ dort, ein paar organisatorische Arbeiten rund um die aktuelle CD, dann den Nachwuchs vom Kindergarten abholen. Als die jazzzeit Drechsler zum Interview trifft, wirkt dieser geschäftig wie eine Brummbiene. Das Bedürfnis nach Pausen und Leerräumen zeigt sich eher in der Musik, die der einstige Frontman des „Café Drechsler“ heute produziert. Ruhige, sparsam gespielte Stücke definieren seine neue CD „Daily Mysteries“, die er gemeinsam mit Schlagzeuger Jörg Mikula und Gitarrist Heimo Trixner aufgenommen hat.
Ganz neu ist Drechslers Begeisterung für das Lyrische nicht: Sein 2006 erschienenes Album „Humans & Places“, aufgenommen mit dem norwegischen Pianisten Tord Gustavsen, gab die Richtung vor, die er nun im Trio weiter verfolgt. Damals begann Drechsler selbst Musik zu komponieren: Die nächste Kollaboration mit Gustavsen war erst für 2008 absehbar, ein anderes Projekt platzte kurzfristig, so flossen seine Ideen ins Trio. „Ich bin ein ziemlicher Fan des Trios Bill Frisell, Joe Lovano und Paul Motian. Gerade die letzten beiden Platten auf ECM liebe ich heiß“, sagt Drechsler. „Dann war da der Wunsch, etwas ohne Kontrabass zu machen, weil ich der Musik einen stärker schwebenden Charakter verleihen wollte.“ Schlagzeuger Jörg Mikula war schon von „Humans & Places“ mit Drechslers Ideen vertraut. Gitarrist Trixner passte mit seinem delikaten, überlegten Spiel perfekt dazu und steuerte drei Kompositionen zum Album bei.
Die Stücke auf „Daily Mysteries“ wirken zugleich prägnant und atmosphärisch verschwommen: ihre Richtung ist durch Melodiebögen und harmonische Progressionen immer klar, der rote Faden wird von den Musikern gemeinsam gesponnen und nur selten tritt ein einzelnes Instrument mit einer eindeutigen Führungsrolle hervor. „Bei „Humans & Places“ gab es ganz klare Trennungen zwischen Solist und Begleitung“, erzählt Drechsler. „Beim neuen Album habe ich sehr viel Wert drauf gelegt, dass die Musik eingängig ist, die Konversation steht im Vordergrund.“ Drechsler verschweigt nicht, dass er es mit „Daily Mysteries“ auch auf das Publikum abgesehen hat, das mit Jazz gewohnheitsmäßig eher wenig am Hut hat. Zugänglichkeit liegt ihm am Herzen, das war schon bei Café Drechsler so, jenem Trio, das mit seiner von der DJ_kultur inspirierten, improvisierten Tanz-Musik die Bobos begeisterte und 2005 einen Amadeus-Award gewann. Nach der Trennung von Schlagzeuger Alex Deutsch fährt der Saxofonist und Klarinettist mit Drummer Mikula, Bassist Oliver Steger und Waxolutionist-DJ Zuzee unter dem Bandnamen „Drechsler“ weiter auf der Groove-Schiene.
Mit „Daily Mysteries“ will der Bandleader Wärme spenden, ohne dabei in sanfte Beruhigungsmusik abzugleiten. „Das bewundere ich an der skandinavischen Jazzszene so, dass der Ton und die Atmosphäre im Mittelpunkt stehen“, sagt Drechsler. „Paul Bley hat mal die Musik mit der Sonne verglichen und gesagt, dass sie für alle Menschen dieser Welt Energie und Kraftspender sei. Gerade in Skandinavien, wo wenig Sonne scheine, sei die Musik umso wertvoller, deswegen würden die skandinavischen Musiker auch so um jeden einzelnen Ton ringen und kämpfen.“ Dass der Geist der ruhigen Musik, den Drechslers Trio beschwört, an einen Ort gebunden ist, glaubt der Bandleader aber eher nicht. Auch in Wien ist wärmende Musik nicht fehl am Platz, und so denkt Drechsler bei aller Skandinavien-Begeisterung weniger an Länder, sondern mehr an Situationen, wenn er Hilfestellung beim Komponieren sucht. Die kleinen Wunder des Alltags, „Daily Mysteries“ eben, hätten ihn zu Stücken inspiriert: Dass seine Kinder aufwachsen, dass der Kaffee jeden Tag anders schmeckt. Die Hörer, sagt Drechsler, sollen mitkriegen, dass er sie an seiner kleinen musikalischen Welt teilhaben läßt. Ob die Welt ihren Mittelpunkt in Wien, Oslo oder sonst wo hat, ist egal.

Michael Huber – Nov/Dez 2007

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